Ein einfühlsam renoviertes Schloss, gut eingebettet und versteckt zwischen den hügeligen, wogenden Feldern des Weinviertels – das ist das Zuhause des Künstlers Hermann Nitsch. Hier finden die legendären Spiele des Orgien Mysterien Theaters statt, hier entstehen die Schüttbilder, hier werden Partituren geschrieben und hier wird das Leben in vollen Zügen genossen. Für das Schlossseiten-Team öffnete der Meister einen Nachmittag lang nicht nur das große Eingangstor, sondern auch sein Herz.
Es war im Jahr 1945, kurz nach dem Krieg, als Hermann Nitsch als damals siebenjähriger Bub mit seinen Eltern immer wieder zu seiner Großmutter aufs Land fuhr, wo diese ein kleines Haus in Prinzendorf besaß. „Unsere Besuche waren toll. Für die Erwachsenen endeten sie meist mit einem Vollrausch, und auch wir Kinder hatten es lustig“, erinnert er sich. Damals entstand bei Hermann Nitsch seine Begeisterung für die Natur, und als er später Malerei studierte und Künstler wurde, verstand er die Motive von Van Gogh und anderen großen Malern.
„Die hügelige Landschaft, die goldglänzenden Felder und die prachtvollen Sonnenuntergänge - all das habe ich hier auch.“ Eines Tages, zu Pfingsten 1971, als er wieder einmal zu Besuch im niederösterreichischen Prinzendorf ist, schlägt Hermann Nitsch zufällig den Weg zum Schloss ein. „Es hat mich ein Glücksgefühl ergriffen, das über mein damaliges philosophisches Verständnis weit hinausgegangen ist“, erzählt er. Als das Schloss dann auch noch zum Kauf frei stand, war das Glück perfekt.
Leicht erhöht über dem Ort, am rechten Talhang der Zaya, steht der Bau. Ursprünglich wahrscheinlich als mittelalterliche Burganlage geplant, hat er eine wechselhafte Geschichte hinter sich, bis im Jahre 1838 das Stift Klosterneuburg als Besitzer auf den Plan tritt. Seit damals besteht das Schloss aus einem lang gestreckten, dreigeschossigen Hauptteil und kürzeren Seitenflügeln, die gemeinsam mit dem Wirtschaftstrakt einen wunderschön gepflegten Hof umschließen. Als Hermann Nitsch einzog, war restauratorisch viel zu tun und er selbst befand sich gerade mitten in einer spannenden Phase.
Als Mitbegründer des Wiener Aktionismus ist Nitsch einer der vielseitigsten zeitgenössischen Künstler, der als Aktionist, Maler, Komponist und Bühnenbildner tätig ist, der sich mit Literatur, Philosophie und auch mit Religionen befasst und schon in den 1960er-Jahren zum ersten Mal versuchte, die Idee des Orgien Mysterien Theaters umzusetzen. Bei diesen Aktionen geht es um das intensive sinnliche Erleben verschiedener Substanzen und Flüssigkeiten; dazu gehören Lärm- und Schreikonzerte, die einer Partitur folgen. Im Laufe der Jahre wurden die Aktionen immer provokanter.
Es kam zu angedeuteten Kreuzigungen, zu Schüttungen von Blut, die Nitsch als Synonym für das Leben als Passion ansieht. Seine in die Bilder eingefügten bekleckerten Malhemden wurden zum Markenzeichen. „Hier in Österreich hat man mich wegen meiner Kunst dreimal eingesperrt“, erzählt Hermann Nitsch freizügig. Im Jahr 1968 ging er, ebenso wie sein guter Freund Günter Brus und Künstlerkollegen wie Gerhard Rühm oder Oswald Wiener, „ins Exil“ und machte sich mit seiner Kunst im Laufe weniger Jahre von Deutschland und Italien aus bis in die USA einen Namen.
Zurück in Prinzendorf, war das Schloss für ihn ideal. „Ich wollte – so wie Wagner in Bayreuth – meine Sache hier inszenieren.“ Ein Gesamtkunstwerk, das alle paar Jahre aufs Neue aufgeführt wird. An Nitschs damalige Frau, die tragischerweise kurz nach dem Kauf und der notdürftigen Renovierung des Schlosses bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, erinnert noch heute eine Dankestafel an der Fassade. Inzwischen sind viele Jahre vergangen. „Wir haben uns große Mühe gegeben“, sagt Hermann Nitsch und erzählt, wie er gemeinsam mit seiner zweiten Frau Räume und Fassaden, Dächer und den Park renoviert hat, alles im Einklang mit Denkmalschutz und höchster Ästhetik.
„Die Bejahung des Lebens und nicht die Verneinung in Richtung Transzendenz“ – so lautet das Lebensmotto des Hermann Nitsch, dem er über die Jahrzehnte hinweg auf allen Linien treu geblieben ist. Die tiefenpsychologischen Erkenntnisse des Schweizers Carl Gustav Jung, die Vorsokratiker – also jene Philosophen der Antike, die vor Sokrates lebten und die mit ihren Gedanken die abendländische Philosophie begründeten –, aber auch Friedrich Nietzsche sind die Referenzpunkte, die Nitsch zum Glauben an die Schöpfung, an den unendlichen Kosmos und an die grundsätzliche Lebensbejahung begleitet haben.
Und obwohl er keiner speziellen Glaubensrichtung anhängt, „faszinieren mich die Religionen. Irgendwie scheint es ihnen allen mehr oder weniger um das Gleiche zu gehen“. Der Rundgang durch das Schloss erklärt dann vieles: Wir starten im ersten Stock, wo Hermann Nitsch und seine Assistentin zwischen Türmen von Büchern und Papieren, Plakaten und Objekten, Klavier und Orgel sowie etlichen Tischen zum geselligen Beisammensein mit Freunden oder Sammlern arbeiten. Hier entstanden auch die Unterlagen für seine Gastprofessuren an der Städelschule (Staatliche Hochschule für Bildenden Künste) in Frankfurt am Main, der Hochschule für bildende Künste Hamburg sowie für etliche Sommerakademien in Salzburg.
Momentan liegt das Konzept für einen Vortrag zum Thema „Die Musik des Orgien Mysterien Theaters“ in der Aula der Kunstuni Wien auf seinem Tisch. An den Wänden hängen großflächige Gemälde des Künstlers, eine Hauskapelle ist gespickt mit Fotos blutiger Aktionen und zwischen Madonnenbildern und Messgewändern schwebt ein spiritueller Hauch.Ein Stockwerk höher, direkt unter dem Dach, befinden sich die Malräume des Meisters.
Loftartig und mit Ziegelboden ausgestattet, sind sie ideal für große Malaktionen, die ein- bis zweimal jährlich stattfinden. Das ist die Zeit, wenn Hermann Nitsch viele Tage und Nächte lang die aufgespannten Jutebahnen mit Farbe überschüttet und ihre Oberflächen mit Besen und Händen bearbeitet. Hermann Nitsch schwärmt für die „sinnliche Malerei“ eines Rembrandt, Velázques oder Tizian. Er selbst liebt dick aufgetragene Farben und Substanzen, „die sinnliche Empfindungen hervorrufen – so wie Gedärme, Fleisch, Blut und Schleim“.
Vom Schüttboden geht es hinunter in die Seitenflügel des Schlosses. Ein Winteratelier, in dem gerade große Gemälde fachmännisch restauriert werden, ein Grafikraum, dessen Wände und Vitrinen voller Zeichnungen sind und in dem auf Regalen die Weinflaschen aus dem Eigenanbau mit handgemachten Etiketten versehen sind. Hier gibt es auch einen Ausstellungsraum; dieser ergänzt das 2007 eröffnete Hermann Nitsch Museum in Mistelbach, die Nitsch Foundation in Wien und das 2008 vom Galeristen Peppe Morra in Neapel eröffnete Archiv, das sich in einem aufgelassenen Elektrizitätswerk befindet.
„Peppe Morra hat mich 1972 zu einer Aktion eingeladen. Es war ein großer Skandal in der ganzen Stadt“, erzählt Nitsch lachend, „und seitdem sind wir gute Freunde.“ Die Aufregungen und Skandale gehören dazu. Ungeachtet seiner Verankerung im Kunstbetrieb, trotz zahlreicher Auszeichnungen und obwohl seine Arbeiten in keiner großen österreichischen und internationalen Sammlung fehlen, ist Hermann Nitsch einer der umstrittensten Künstler unseres Landes. Die Kritik kommt von christlich-religiöser Seite und vor allem von Tierschützern.
Wenn man allerdings Schloss Prinzendorf besucht, wird man hier eines Besseren belehrt: Ein Maultier, eine Ziege, ein Hund, sechs Katzen, viele Hühner und an die vierzig Pfaue beleben den Innenhof. „Ich bin ein Tierfreund“, sagt Hermann Nitsch und kann das glaubhaft beweisen, als eine Katze auf seinen Schoß hüpft. In demselben Hof spielen sich alljährlich die Pfingstfeste mit jeder Menge Gäste sowie die Spiele des Orgien Mysterien Theaters ab. Es gibt 24-Stunden-Aktionen, das 3-Tage-Spiel und das 6-Tage-Spiel, dessen „vorläufig letzte Fassung 1998 über die Bühne ging“, wie Nitsch erzählt.
„Ich war der Erste der Welt, der Happenings und Performance-Kunst gemacht hat“, sagt er stolz und beschreibt, dass es „ein Ereignis ist, das mit allen fünf Sinnen erfahren werden muss“. Beim letzten Spiel waren 500 Akteure und an die 1000 Zuschauer nach Prinzendorf gekommen. Das Orchester, die Schneider, die Tischler und die Köche, die alle Anwesenden versorgen, halten sich dann tagelang am Hof auf. Agiert wird nach einer Partitur von Hermann Nitsch. „Wir proben drei Wochen lang. Es ist so wie eine Trockenübung“, erläutert der Künstler.
Erst für die Aufführung des Gesamtkunstwerkes kommen dann Blut und Fleisch – fast immer von davor ordnungsgemäß geschlachteten Tieren – ins Spiel. Ganz friedlich liegt der Park rund um das Schloss. Ein ehemaliger Wassergraben begrenzt den Garten, der mit herrlichen Rosen bepflanzt ist. Eine altehrwürdige Allee führt in die Felder und ein fein säuberlich angelegter Gemüsegarten sorgt für Küchengrundlagen. Hermann Nitsch ist ein Genussmensch. „Fürs Kochen bin ich zu ungeduldig“, meint er und fügt hinzu: „Ich geh viel ins Wirtshaus.“
Das stimmt für Asolo in Norditalien, wo er ein Refugium besitzt, genauso wie für das Weinviertel, das für ihn wie geschaffen ist. Hier leben „dionysische Menschen“, analysiert Nitsch. „Seit Josef II. sie von der Leibeigenschaft befreit hat, haben die Bauern ihre Scholle bewirtschaftet und sich in den Weinkellern berauscht.“ Auch Hermann Nitsch hat seine eigenen Reben und lässt diese vom Weingut Martinshof im Nachbarort pressen. Wenn der Abend kommt und Hermann Nitsch nicht auf Reisen ist, setzt er sich auf die Bank vor dem großen Haus. Hierher hat er uns eingeladen. Wir bewundern, wie Schloss Prinzendorf in der Abendsonne glänzt, wie schön er alles renoviert hat. Wir sinnieren über seine Kunstaktionen und trinken seinen Wein. Prosit, Hermann Nitsch!